★★★★ ½
Mit Ilkay Idiskut Regie Ruth Beckermann
Ab 7 Länge 118 Min.
Eine Klasse mit 21 Kindern. Alle sprechen fließend Deutsch. Bei jeder Aktivität sind gleich 10 Eltern vor Ort. Bei Problemen bekommen die Kinder extra Betreuung von einer Sozialpädagogin. Fällt eine Lehrkraft aus, findet man Ersatz. So ist das bei uns in der Wiener Leopoldstadt. Und dann gibt es Schulen wie in Ruth Beckermanns sehenswerter Langzeitbeobachtung FAVORITEN.
Kurzkritik
Gut eine Reihe mehr steht hier an Tischen in der Klasse. Es ist die größte Volksschule in Wien im Flächenbezirk Favoriten. Vorne steht Ilkay Idiskut. Einfühlsam, engagiert und ambitioniert steuert sie die Klasse durch die vier Jahre der Volksschule. Die ersten vier Jahre der Schulpflicht in Österreich (die eigentlich eine Unterrichtspicht ist). Für alle Kinder gleich und doch nicht.
Das marode Schulsystem hier aufzuarbeiten würde den Rahmen sprengen. Ruth Beckermann gelingt es in ihrer Dokumentation zahlreiche Themen anzusprechen. Ohne Kommentar, ohne sie zu werten. Sie sind ohnehin offensichtlich.
Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die Kindern mit Migrationshintergrund in Österreich widerfährt. Wobei man sagen muss, dass die Sprachkompetenz eine wesentliche Rolle spielt. Hier geboren, ist Deutsch eine große Herausforderung, weil es weder zu Hause, noch im sozialen Umfeld gesprochen wird.
FAVORITEN zeigt das auf. Nichts davon ist neu. Zeitgemäße pädagogische Konzepte liegen seit Jahrzehnten vor. Man muss sich unweigerlich die Frage stellen, ob das so gewollt ist. Gäbe es diese Probleme nicht, fehle dann nicht auch eine Projektionsfläche, an der sich die Politik tagtäglich so gerne abarbeitet?
Neben den schulischen Angelegenheiten hängt es auch an Idiskut kulturelle und soziale Aufklärung zu betreiben. Zum Beispiel hinsichtlich des Bildes, das die Jungen von Frauen haben oder sie muss sich zusätzlich um ein neu hinzugekommenes Kind kümmern, das dem Unterricht überhaupt nicht folgen kann. Eine Mammutaufgabe.
Beckermann stellt die Kinder in den Vordergrund. Sie sind die Stars, die von Wien über Berlin bis Hong Kong von der Leinwand herunterlächeln. Teilweise sind es Kinder von Akademikern, die ratlos sind ob unseres Schulsystems, das die Kinder mit 10 Jahren beinhart selektiert und ihren Werdegang zwar nicht einzementiert aber sie doch in recht schwere Schuhe steckt. Davor werden die Kleinen noch mit Noten zur Verzweiflung gebracht. Ein konservativer Bildungstraum. Auf Seiten der Politik ein klares nicht genügend. Von den Kindern werden Leistungen erwartet aber im Gegenzug erfüllt der Staat seine eigenen Aufgaben nicht. Das System leidet an der Bürokratie und an Personalmangel.
In einem Interview sagte Ruth Beckermann, dass sie und ihr Team am Ende eines Drehtages oft wütend die Schule verlassen haben. Viel Hoffnung steckt in FAVORITEN leider nicht. Nach vier Jahren werden die Kinder in eine ungewisse Zukunft entlassen. Die primären Aufgaben, die eine Volksschule erfüllen soll, können kaum bewältigt werden.
FAVORITEN, Österreich 2024
Dokumentation Ab 7 Länge 118 Min.
Regie Ruth Beckermann Drehbuch Ruth Beckermann, Elisabeth Menasse Kamera Johannes Hammel Schnitt Dieter Pichler
Mit Ilkay Idiskut, Alper, Amina, Arian, Beid, Dani, Danilo, David, Davut, Eda, Egemen, Elif, Enes, Fatima, Furkan, Hafsa, Ibrahim, Liemar, Majeda, Manessa, Melissa, Mohammed, Natalia, Nerjiss, Rebeca, Selen, Selin, Teodora und Valentin.
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