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Gerade wenn illiberale Strömungen überall auf der Welt im Vormarsch sind, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass von Europa bis Südamerika faschistische Regime an der Macht waren. Sind demokratische Grundfesten einmal zerstört, ist es ein steiniger Weg zurück in die Freiheit. Von diesen Schwierigkeiten erzählt Argentinien, 1985 von Santiago Mitre. Die Junta ist zwar Geschichte aber überwunden ist sie noch lange nicht, wie der Staatsanwalt Julio Strassera erfahren muss, als er das größte Strafverfolgungsverfahren für Kriegsverbrechen seit den Nürnberger Prozessen vorbereitet.
Darum geht es
Nachdem das Militärgericht 1984 keinen Grund für eine Strafverfolgung gegen die Haupttäter der argentinischen Militärdiktatur feststellen wollte, beschließt ein ziviles Gericht Anklage gegen den ehemaligen General Jorge Videla und weitere führende Mittäter zu erheben. Dem Staatsanwalt Julio Strassera (Ricardo Darín) bleiben nur wenige Wochen, um ein Team zusammenzustellen und Beweise zusammenzutragen. Renommierte Juristen zu finden gestaltet sich als unmöglich. Zum einen ist die Gesellschaft gespalten und dann geht auch immer noch die Angst vor der Rache des Militärs um. Einzig der junge Anwalt Luis Moreno Ocampo (Juan Pedro Lanzani) erklärt sich bereit mit Strassera zusammenzuarbeiten. Obwohl er selbst familiäre Verbindungen zum Militärregime hat, ist er im Gegensatz zum Staatsanwalt davon überzeugt, dass ein fairer Prozess möglich ist. Gemeinsam stellen sie ein sehr junges Team aus unerfahrenen und somit auch politisch nicht vorbelasteten AnwältInnen zusammen. Innerhalb kürzester Zeit sammeln sie quer durch ganz Argentinien über 800 Zeugenaussagen. Dabei sind sie ständig Bedrohungen ausgesetzt. Es gibt Kräfte im Land, die einen Prozess mit allen Mitteln verhindern möchten.
Kommentar
Selbst in Argentinien ist der Prozess von 1985 zumindest bei der jüngeren Bevölkerung in Vergessenheit geraten. Mit ein Grund für Regisseur Santiago Mitre sich dem Thema anzunehmen. Die juristische Aufarbeitung sollte das Land noch viele Jahre beschäftigen. Alle damals verurteilten wurden bald wieder in die Freiheit entlassen. Ein neuerlicher Prozess fand erst mehr als 20 Jahre später statt. Videla wurde erst 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt und starb 2013 im Gefängnis. Während der Diktatur verschwanden zehntausende Menschen. Kinder wurden systematisch entführt und verkauft.
Argentinien, 1985 gibt jenen Menschen eine Stimme, die unter der Junta litten. Vor Gericht kommen sie zu Wort und schildern die unfassbaren Gräuel, denen sie ausgesetzt waren. Die detaillierten Berichte sind kaum zu ertragen. Es ist der Moment, in dem Regisseur Mitre todernst wird.
Darüber hinaus kommt das Drama mit einer gewissen Leichtigkeit daher, die vor allem dem ambivalenten Charakter Julio Strassera zu verdanken ist. Am Anfang ist er alles andere als ein Held. Nur widerwillig nimmt er sich der Aufgabe an und ist nicht von der Sinhaftigkeit eines Prozesses überzeugt. Ricardo Darín verkörpert ihn mit einem gewissen Witz und einer mürrischen Schrulligkeit, die Argentinien, 1985 auch zu einem unterhaltsamen Film machen. Spannend und mit einer charismatischen Besetzung braucht das Gerichtsdrama den Vergleich mit Hollywood nicht zu scheuen.
Argentinien, 1985 erfindet das Genre nicht neu aber Mitre, trifft aber immer den richtigen Ton und leistet einen großen Beitrag zur Erinnerungskultur und seine Geschichtsstunde sollte in Argentinien aber auch über die Grenzen hinaus in der Welt ihr Publikum finden. Hat man sich erstmal von der Demokratie verabschiedet, ist der Weg zurück ein sehr mühsamer und die Aufarbeitung langwierig.
Argentinien, 1985 (OT: Argentina, 1985)
Drama, ARG/UK/USA 2022
Regie Santiago Mitre
Drehbuch Santiago Mitre, Mariano Llinás
Kamera Javier Juliá
Schnitt Andrés P. Estrada
Musik Pedro Osuna
Mit Ricardo Darín, Juan Pedro Lanzani, ua.
Länge 140 Minuten
Streamingplattform Amazon Prime
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