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In Österreich erlangte Athena von Romain Gavras unrühmliche Bekanntheit, als es Ende Oktober 2022 in Linz zu Ausschreitungen kam und der Film hier offenbar als Inspiration für die Gefechte mit der Polizei herhalten musste. Bei den Filmfestspielen in Venedig mit zwei Preisen bedacht, ist Athena vor allem eins: ein rasantes wutgeladenes Gefecht mit chaotischen, langen Plansequenzen, die ihresgleichen suchen. Nicht zuletzt in der technischen Umsetzung sehr spannend. Wem Emily in Paris zu lieblich ist, hier kommt Mad Max: Fury Road in der Pariser Vorstadt.
Darum geht es
Die drei Brüder Karim (Sami Slimane), Abdel (Dali Benssalah) und Moktar (Ouassini Embarek) machen für den ungeklärten Tod ihres Bruders Idir die Polizei verantwortlich. Allerdings gehen sie damit ganz unterschiedlich um. Sie haben einen algerischen Migrationshintergrund, jedoch ganz verschiedene Biografien. Karim ist eine im Bezirk angesehene Größe und schwört auf Rache. Im zur Seite steht ein ganzes Heer an wütenden Mitstreitern. Nicht weniger aufgebracht ist Moktar, ein Drogendealer. Abdel kehrt gerade von der Armee zurück und versucht zu beschwichtigen. Er kann jedoch nicht mehr verhindern, dass die Lage allmählich eskaliert und sich ein ganzer Wohnblock in ein Schlachtfeld verwandelt.
Kommentar
Bereits nach wenigen Minuten musste ich die Pausetaste drücken. Was ist das jetzt? Schnell bei Youtube fündig geworden (siehe Making-of unten). Also alles echt. Athena beginnt mit einer 10-minütigen Plansequenz: Anfangs ein Pressestatement der Polizei, das in einen Brandanschlag und einer Stürmung eines Gebäudes mündet. Dann Flucht auf Motorrädern und im Kleinlaster. Die Kamera (Matias Boucard) mal auf dem Motorrad, dann im Inneren des Lasters. Von Beginn an alles ohne Schnitt gedreht auf einer Distanz von mehreren Kilometern, bis die Kamera in die Luft abhebt. Das ist atemberaubend gut.
So geht es dann auch weiter. Romain Gavras hat den gesamten Film um die drei Brüder in der Pariser Vorstadt in Plansequenzen angelegt. In der Ästhetik erinnern sie teilweise an Peter Jacksons Schlachten in Mittelerde, nur das hier Großteils Migranten der Polizei gegenüberstehen. Das ist unglaublich dynamisch und dicht, sicherlich auch wegen der kompakten Spiellänge von rund 90 Minuten.
Am Drehbuch beteiligt war unter anderen Ladj Ly, der 2019 mit Die Wütenden – Les Misérables auf sich aufmerksam machte (Amazon Prime). In seinem Regiedebüt porträtierte Ly drei Polizisten im Stadtteil Les Bosquets. War damals der schwellende Konflikt unter der Oberfläche zu spüren, eskaliert es in Athena nun bis zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
In diesem Sinne haben wir es hier mit einer Fortführung des Themas zu tun. Allerdings entwarf Die Wütenden ein präziseres und feinfühliger Bild der Konflikte in den Banlieues. Weniger spektakulär in der Umsetzung, dafür mehr der Sache dienlich, in dem der Fokus auf die Lebenssituation der Menschen gelegt wurde. Athena ist pure Provokation. Graubereiche gibt es hier keine mehr.
Es ist am Ende die technische Umsetzung mittels enormen logistischem Aufwand, die Athena so spannend macht. Der hohe technische Aufwand und der Einsatz von realer Pyrotechnik ermöglicht ein unmittelbares Erlebnis, das an Intensität und Rasanz kaum zu überbieten ist. Greenscreen oder digitale Effekte gibt es nicht. Vor allem die erste Sequenz wird lange in Erinnerung bleiben. Es ist die wohl spektakulärste Plansequenz der Filmgeschichte. Die epochalen Choräle von Surkin entfalten ihre Wirkungskraft vor allem in den großen Gefechtsszenen. Überwiegend gedreht mit IMAX Kameras. Zu sehen ausschließlich bei Netflix.
ATHENA
Drama, F 2022
Regie Romain Gavras
Drehbuch Romain Gavras, Ladj Ly, Elias Belkeddar
Kamera Matias Boucard
Schnitt Cherifi Akram Mohamed Yasser
Musik Gener8ion
Mit Dali Benssalah, Sami Slimane, Anthony Bajon, Ouassini Embarek, Alexis Manenti
Länge 97 Minuten
Streamingplattform Netflix
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